Theater-Rezension: RENT von Floodlight Musicals

Ich liebe Theater und habe außerdem längere Zeit mein Geld damit verdient, Rezensionen zu Theaterinszenierungen zu schreiben (übrigens: bester Job der Welt!).

Inszenierungen können für mich nicht abstrakt genug sein, ich will angeregt werden, klüger sein und meinen Horizont erweitert wissen, wenn ich aus dem Theater komme. Banales Unterhaltungstheater und Musicals standen darum bisher nicht auf meiner Liste. Wie gut, dass eine Freundin mich zum Geburtstag ausgerechnet in ein Musical eingeladen hat. Mir wäre sonst echt was entgangen!

RENT

Das Musical ist in Deutschland schon einige Male aufgeführt worden, ist in der breiten Bevölkerung aber nicht so populär wie Les Miserable, West Side Story oder Wicked. Das verwundert, ist das Stück in den USA seit Jahren ein Hit. Das ist wohl auch der Grund, warum mir einige Songs seltsam vertraut vorkamen. 2006 wurde das Musical (teilweise mit der Original-Broadway-Besetzung) verfilmt, ihr könnt euch das Musical also auch bequem nach hause holen.

Floodlight Musicals

Nun gab es dieses Musical also in Aachen, aber nicht im großen Saal oder der Kammer eines Theaters, auch nicht auf einer sommerlichen Freilichtbühne. Nein, wir kamen in der Aula einer Schule zusammen. Warum?

Der Verein Floodlight Musicals ist laut eigener Aussage ein Verbund von Musical-Begeisterten. Und das merkt man! Das Ensemble, die Bühnenhelfer, die Band – allen merkte man die Leidenschaft an, die sie in das Projekt investiert hatten. Ich kenne Inszenierungen am eigenen Leibe nur aus der Schule, wo eine Aufführung im Lehrplan eben vorgesehen ist und man es machen muss, und am Ende froh und glücklich ist, wenn man es ohne größere Katastrophen überstanden hat.

Hier aber haben sich dutzende verschiedene Leute freiwillig zusammengeschlossen, ihr Freizeit und Energie investiert, um gemeinsam ihrer Leidenschaft Ausdruck zu verleihen. Herausgekommen ist ein stimmiges Gesamtkunstwerk, das leider nur vier Aufführungen hatte, aber weitaus mehr verdient hätte. Ich bin sehr froh, dass ich das Erleben durfte!

Das war wohl der Grund – nehme ich an -, warum es nur vier Aufführungen gab und diese in, sagen wir mal, nicht unbedingt theater-konformen Locations stattfanden.

Als ich hörte „Studenten-Theater“ (so hatte meine Freundin es beschrieben), sprich Laien-Theater, dachte ich schon „Oooooy, das wird bestimmt …. putzig, wenn die versuchen, zu singen …“ Meine Herren! Lag ich da verkehrt. Die Darsteller warteten zum allergrößten Teil mit Gesang auf Profi-Niveau auf, Tage später hatte ich noch Ohrwürmer von den Songs. 

Ich glaube, wir befinden uns in einer seltenen und wunderschönen Situation: Wir erleben hier gerade die Geburtsstunde eines neuen Theaters – eines Aachener Musical-Theaters. Es gibt einige Theater in Aachen, vom Stadttheater, über das Grenzlandtheater, DAS DA Theater usw. – aber keines ist speziell auf Musicals ausgerichtet. Ganz ehrlich: Wenn die nächsten Inszenierungen auch so anspruchsvoll werden, dann wird Floodlight Musicals bald als fest etablierte Größe sein!

floodlight musicals e.v.

Begeisterung, die man auch bei der Inszenierung spürt: Das Ensemble von Floodlight Musicals e.V.

Das Musical

Die Handlung ist schnell erzählt: Acht Freunde in einem Künstlerviertel in New York werden über ein Jahr begleitet. Der erste Teil spielt um die Weihnachtszeit, der zweite Teil zeigt dann, wie sich die Figurenbeziehungen im Verlaufe des Jahres wandeln.

Ich möchte jetzt nicht das ganze Stück inhaltlich wiedergeben – bessere Inhaltsbeschreibungen finden sich auf Wikipedia & Co. Ich würde aber gerne auf die Spezifika dieser besonderen Inszenierung eingehen.

Ein Hauptthema in RENT ist AIDS und damit verbunden der Umgang mit dem Tod und die existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens oder nach einem sinnvollen Leben. Die Inszenierung von Floodlight Musicals hat den Fokus jedoch etwas angepasst, ohne der Aussage des Stückes untreu zu werden. Der Aspekt der Entfremdung durch Technologie ist bereits im ursprünglichen Stück angelegt, wurde hier nur durch cleveres Lichtspiel und die Tänzer im Hintergrund stärker betont. Besonders kam das bei dem Song „Living in America“ heraus, bei dem zwei der Protagonisten versuchen, ein „normales“ Leben mit nine-to-five-Job und geregeltem Einkommen zu führen, letztendlich aber aus dieser Maschinerie ausbrechen. Im Hintergrund laufen Männer und Frauen in Businesskleidung wie Soldaten im Stechschritt, ohne den Blick vom SmartPhone zu heben, gefangen im Hamsterrad des Kapitalismus.

Technologie schafft also auf einer Seite Nähe, weil sie es erlaubt, Kontakt zu Menschen halten kann, die Weit entfernt sind. Trotzdem entfremdet sie die Menschen, weil die Kommunikation nicht mehr von Angesicht zu Angesicht stattfindet. Symbolisiert wird dies durch die zufällig eingestreuten Anrufbeantworter-Nachrichten, die – singend und amüsant vorgetragen – in der Handlung selbst nicht weiter kommentiert werden. Es wird also munter kommuniziert, ohne jegliche Konsequenz.

Die Figuren hingegen, die sich leibhaftig gegenüberstehen, gehen mehr oder weniger beabsichtigt Beziehungen miteinander ein, verfangen sich gegenseitig in ihren Gravitationsfeldern und wachsen daran. Während sie sich einer feindlichen Umwelt gegenüber, die ihnen Regeln und Normen aufzwingen will, drückt das besungene Vie Bohème eine starke Sehnsucht nach Freiheit aus. Die Figuren wollen sich ausdrücken, gehört werden, jedoch ohne die technologische Verfremdung.

Es gibt zwar deutsche Bearbeitungen des Stücks, hier wurde es allerdings auf englisch inszeniert, was mich nicht gestört hat. Die Musik ist fetzig, die Songs gehen in eine ziemliche pop-rockige Richtung, so dass ich die meiste Zeit auf meinem Stuhl kräftig mitgewippt habe. Auch die Bühnenbilder waren sehr schön interpretiert; gerade die kleinen, surrealen und auch abstrakteren Elemente in der Inszenierung fand ich spannend und habe sie dankenswert aufgenommen.

Kleiner Wermutstropfen war die Akustik in der Aula der Schule. Wir saßen recht nah am Orchester vorne und haben teilweise über das Schlagzeug hinweg den Gesang kaum verstehen können. Ich hoffe, dass die Crew von Floodlight Musicals nach diesem ersten grandiosen Erfolg bei der nächsten Inszenierung bessere Locations bekommt.

Was ist Kunst?

Insgesamt war es eine tolle Inszenierung, die mich nachdenklich gestimmt hat. 

Die Künstler in RENT (und vielleicht alle Künstler) streben dem wahren Leben zu, sie versuchen mit ihrer Kunst den Kern der Wahrheit oder doch zumindest der Wahrhaftigkeit zu erfassen. Darum ist Kunst so wichtig: Sie schafft es absurderweise, durch Verfremdung und Entfremdung des Sachverhaltes genau die Wahrheiten herauszukristallisieren, die durch die Realität überdeckt werden. Wir brauchen Kunst als magische Brille, durch die wir in der Lage sind, die Realität erst richtig wahrzunehmen. Meine Schlussfolgerung lautet also:

Kunst strebt nach Wahrhaftigkeit, der Künstler nach Wahrheit.

Das Stuhl-Motiv

Eine der Regisseure stellte bei der Einführung die Herausforderung, das Stuhl-Motiv, das in das Stück eingebaut wurde, zu interpretieren. Hier also mein bescheidener Versuch.

Sehen wir uns erst mal an, wo Stühle im Stück vorkamen. Das erste Mal fielen sie mir bei der Selbsthilfegruppe auf. Alle sitzen im Kreis und versuchen ihr Leben in den Griff zu kriegen. Im Restaurant sitzen die reichen und erfolgreichen Anti-Künstler ebenfalls auf Stühlen. Bei zwei Songs werden Stühle dann getragen, beim zweiten sogar zyklisch im Kreis bewegt. Das hat mich zu folgender Interpretation gebracht:

 Der Stuhl symbolisiert althergebrachte, traditionelle Werte – arbeiten gehen, Geld verdienen, eine Familie gründen usw. Darum ist es für die Künstler, die sich gegen diese vorgezeichneten Bahnen auflehnen, wichtig, aufzustehen und sich davon zu entwurzeln. Andererseits bietet ein „traditionelles“ Leben Sicherheit und Kontrolle. Die Figuren sehnen sich nach Sicherheit, nach einem sinnvollen Platz in der Welt, der ebenfalls durch den Stuhl symbolisiert wird. Der Stuhl wird also zu einem Symbol, das erstrebens- und verachtenswert zugleich ist. Setzt man sich hin, opfert man seine Freiheit, aber auch den Kontrollverlust. 

Die rotierenden Stühle waren etwas schwieriger zu knacken. Es wird während einer surrealen Szene gebracht, in der Mimi und Roger ein trauriges Liebeslied singen. Am naheliegendsten ist natürlich das Uhren-Motiv, die drehende Bewegung zur Symbolisierung vergehender Zeit. Die Figuren sind beide an AIDS erkrankt, daher bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit. Diese bewegt sich unweigerlich fort, während Mimi und Roger im Moment gefangen sind. Das ergibt sich auch aus dem Text, der zwischenzeitlich lautet „There is no futurte, there is no past“. Im Moment zu leben ist einerseits eine erstrebenswerte Eigenschaft, es kann aber auch sehr beängstigend sein, wenn man in dem Bewusstsein lebt, dass einem (in Anbetracht des Todes) nur noch der Moment bleibt. Der Druck, die verbleibenden Momente sinnvoll auszufüllen, ist enorm. 

Sich von diesem Druck zu befreien, genau wie sich von sozialen Zwängen zu lösen, wird durch das aufstehen vom Stuhl symbolisiert. Es ist ein Sprung ins Ungewisse, aber nur weil man nicht weiß, was einen erwartet, heißt es nicht, dass man ihn nicht wagen sollte: Wie es in Maureens Song heißt „Leap of Faith: Jump over the Moon!“

Ich hoffe, dass Floodlight Musicals den Sprung wagen!

 

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