Äonen musste man sich fragen, wer nun gewitzter war: Licht oder Dunkelheit, der Lichtstrahl oder der Schatten. Der Lichtstrahl war flink und schnell. Behände erleuchtete er alles was war. Doch kaum wandte er sich ab, war dort Schatten und erfüllte alles erneut mit Dunkelheit. Manchmal eroberte der Lichtstrahl große Weiten, dann wieder errang der Schatten den Sieg über viele Teile der Himmelswelten. In einem ewigen Kreislauf überwog einmal das eine, dann wieder das andere.
Eine Sache gab es jedoch, die war flinker als sie beide: Der goldene Hirsch. Er war ein mächtiges, prachtvolles Tier mit einem gigantischen Geweih, zwischen dessen Sprossen eine gelbe und eine weiße Lichtkugel schwebten. Man sagte, bei den Reisen des goldenes Hirsches verfingen sich die Ideen und Träume der Bewohner des Kosmos seinem Geweih. Niemand konnte das bestätigen, denn nie war es jemandem gelungen, den Hirsch zu fangen.
Wie ein Komet raste der goldene Hirsch durch den Himmel, so schnell, dass weder Lichtstrahl noch Schatten ihn einholen konnten. Oft hatten sie es versucht, doch beide waren gescheitert.
Eines Tages sagte die Dunkelheit zum Schatten: “Du hast mir gute Dienste erwiesen, treuer Schatten. Einen weiteren Gefallen muss ich von dir erbitten.”
“Alles, liebe Mutter”, sagte der Schatten.
“Der goldene Hirsch ist verbündeter des Lichts, sonst hätte er niemals diese leuchtenden Kugeln in seinem Geweih. Gehe hin und töte den goldenen Hirsch.”
“Aber wie nur, liebe Mutter? Der Hirsch ist schneller als ich.”
“Keine Sorge. Hier hast du Pfeil und Bogen. Die Sehne ist aus Finsternis und die Pfeilspitze aus Obsidian. Jeder Pfeil, den du aus diesem Bogen abschießt, wird schneller sein als der Hirsch.”
Der Schatten nahm die Waffe und begab sich auf die Pirsch.
Die Jagd blieb nicht verborgen und so sagte das Licht zu dem Lichtstrahl:
“Du musst den goldenen Hirsch zuerst erlegen, mein kleiner Lichtstrahl. Dann werden wir ein für allemal beweisen, dass Licht über Dunkelheit triumphiert.”
“Aber liebe Mutter, ist der goldene Hirsch nicht unser Freund?”, fragte der Lichtstrahl.
“Nicht, wenn er tot ist. Diesen Sieg dürfen wir der Dunkelheit nicht überlassen. Hier hast du Pfeil und Bogen. Die Sehne ist aus Klarheit und die Pfeilspitze aus Feuer. Jeder Pfeil, den du aus diesem Bogen abschießt, wird schneller sein als der Hirsch.”
Der Lichtstrahl nahm die Waffe ehrfürchtig entgegen und begann seinerseits die Jagd nach dem Hirsch.
Lichtstrahl und Schatten suchten den ganzen Himmel nach dem goldenen Hirsch ab. Das Schicksal wollte, dass sie ihn im gleichen Moment erblickten. Der Lichtstrahl versteckte sich hinter einer Staubwolke und nahm den Hirsch ins Visier. Unbemerkt lag derweil der Schatten in einem Asteroidenfeld auf der Lauer und spannte den Bogen. Im gleichen Augenblick surrten die Sehnen und zwei Pfeile schossen aus verschiedenen Richtungen in dasselbe Ziel. Der goldene Hirsch warf ruckartig den Kopf nach hinten, er verdrehte die Augen und mit einem röhrenden Schrei stürzte er ab.
Der Schatten suchte nach dem Kadaver, doch den Hirsch zu finden war gar nicht so leicht, denn sein goldener Schein war erloschen. Die zwei Kugeln aus seinem Geweih hatten sich befreit und schwebten als Sonne und Mond am Himmel. Als der Schatten den leblosen Körper des Hirsches endlich fand, erreichte auch der Lichtstrahl die Stelle.
“He, weg da! ich habe den goldenen Hirsch erlegt!”, rief der Schatten wütend.
“Unsinn! Mein Pfeil hat ihn getötet!”, antwortete der Lichtstrahl aufgebracht.
Da merkten sie, dass zwei Pfeile in dem Tier steckten.
“Mein Pfeil traf das Herz!”, rief der Lichtstrahl.
“Nein, mein Pfeil hat das Herz getroffen, also erhebe ich Anspruch auf den Erfolg!”, widersprach der Schatten. Missmutig zog der Lichtstrahl ein feines Messer mit einer strahlenden Klinge. “Dann lass uns nachsehen”, sagte er und schnitt die Wunde des Hirsches auf: Beide Pfeile hatten das Herz des Hirsches durchbohrt, ihre Spitzen berührten sich genau in der Mitte.
Schatten und Lichtstrahl sahen sich an. Diese Jagd bewies ein für allemal, dass Licht und Dunkelheit ebenbürtig waren.
In diesem Moment regte sich der Hirschkörper. Er verformte sich, Wurzeln sprossen aus seinem Innern heraus, es bildeten sich Knospen, Sprossen und letztendlich schossen Ranken in die Höhe. Ein Wald entstand mit mächtigen Bäumen, saftigen Pflanzen und vielen Tieren. Gleichmäßig bedeckten Lichtflecken und Schatten den Waldboden. Von dem toten Hirsch war nichts mehr zu sehen.
Als der Schatten und der Lichtstrahl dieser übersprudelnden Pracht des Lebens gewahr wurden, verflog jeder Gedanke an den Wettstreit. Stattdessen erfüllte sie Wärme und Güte. Die Wälder waren erfüllt mit Leben, kreativer Kraft und Träumen von grenzenlosen Möglichkeiten.
“Hier ist genug Platz für uns beide.”